Kathrin Buhl, Maria Mallender, Leonie Muschner

Flucht – Trauma – Sucht

Schlagwort(e): Geflüchtete, Prävention, Sucht, Traumatisierung

Akteur*innen

Das Netzwerk für traumatisierte Flüchtlinge in Niedersachsen (NTFN) setzt sich seit über zehn Jahren für die Versorgung traumatisierter und psychisch erkrankter Geflüchteter ein. Neben dem Psychosozialen Zentrum in Hannover gibt es Zentren in Braunschweig, Göttingen, Lüneburg, Oldenburg und Osnabrück. Dort werden Beratung, Krisenintervention und stabilisierende Gespräche für Geflüchtete angeboten, zusätzlich finden therapeutische Einzel- und Gruppenangebote statt. Weitere Aufgabenfelder des NTFN beinhalten die Vermittlung der Patient*innen in die Regelversorgung, Kostenübernahmeanträge von Psychotherapien und Dolmetschkosten sowie Schulungen.

Die Niedersächsische Landesstelle für Suchtfragen (NLS) ist eine Vereinigung der Verbände der Freien Wohlfahrtspflege und der Suchtselbsthilfe- und Abstinenzverbände in Niedersachsen. Eine wesentliche Aufgabe besteht darin, die Aktivitäten in der Suchthilfe und Suchtprävention Niedersachsens zu koordinieren, die Einrichtungen miteinander und mit anderen Hilfesystemen zu vernetzen und die Qualität in diesen Arbeitsfeldern weiterzuentwickeln. Die NLS steht in Niedersachsen für ein Netzwerk aus 75 ambulanten Suchtberatungsstellen mit weiteren rund 40 Nebenstellen, 35 stationären Einrichtungen sowie mehreren Hundert Suchtselbsthilfegruppen. Sie zusammen sorgen dafür, dass Menschen mit Suchtproblemen und deren Angehörige frühzeitig eine angemessene Beratung sowie wirksame Hilfen erhalten und suchtpräventive Maßnahmen angeboten werden.

Das Projekt Flucht – Trauma – Sucht wird seit Juli 2019 vom NTFN e. V. durchgeführt, in Kooperation mit der NLS. Es wird aus Mitteln des Asyl-, Migrations- und Integrationsfonds (AMIF) der Europäischen Union gefördert und durch Mittel des Niedersächsischen Ministeriums für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung kofinanziert. Weitere Informationen zum Projekt und zu den Kooperationspartnern finden Sie unter www.ntfn.de/projekte sowie unter www.nls-online.de  

Ausgangslage: Herr B.

Herr B. floh mit seiner Frau und Tochter aus einem Land, in dem es zu ethnischen Säuberungen kam. Unter Androhung von tödlicher Gewalt musste er Gräber ausheben und Leichen verscharren. Diese Bilder verfolgen ihn bis heute. Er ertränkt diese im Alkohol, „um an nichts denken zu müssen“, wie er es selbst beschreibt. Um sich den Alkohol leisten zu können, ohne die Familie zu belasten, sammelt er Pfandflaschen. Als wir ihn kennenlernen, hat er bereits eine fast zweistellige Zahl an Entgiftungen hinter sich. Immer, wenn „gar nichts mehr geht“, wird er von seiner Hausärztin aufgrund schwerwiegender Intoxikation in eine Klinik zur stationären Entgiftung überwiesen und nach ein bis drei Wochen wieder entlassen. Eine über die Akutversorgung hinausgehende bessere Versorgung gäbe das AsylbLG nicht her, erklärt die Sozialarbeiterin in der Unterkunft.

Wir fangen an, nach Möglichkeiten zu suchen: Unsere Mitarbeiterin in der Vermittlung recherchiert stationäre Entzugs- und Entwöhnungsbehandlungen und ambulante Suchttherapien. Die Kostenübernahme nach dem AsylblG wäre möglich, da nach § 6 „für die Gesundheit unerlässlich“ – das bestätigen Fachanwälte –, und auch das zuständige Sozialamt kann sich vorstellen, dass dies langfristig günstiger ist als drei lebenserhaltende Entgiftungen pro Jahr. Die Suche bleibt jedoch schwierig, da Herr B. hauptsächlich seine Muttersprache spricht und es ihm schwer fällt, Deutsch zu lernen. Zwar finden wir Kliniken mit Angeboten auf Türkisch und Russisch, doch das hilft nicht weiter. Immer wieder hören wir, dass der Einsatz von Gruppengesprächen eine zentrale Rolle in der Nachsorge spiele und daher ein Einsatz von Dolmetschenden nicht möglich sei.

Aus diesem Grund werden für Herrn B. ambulante (dolmetschergestützte) Gespräche zweimal die Woche im NTFN bzw. in der lokalen Suchtberatungsstelle vereinbart. In Letzterer kann man sich vorstellen, mit Dolmetschenden zu arbeiten, wenn wir für die Kosten aufkommen. Parallel erhält Herr B. Termine bei einer niedergelassenen Psychotherapeutin mit Traumaschwerpunkt, die Erfahrung in der Arbeit mit Dolmetschenden hat.

Direkt nach dem nächsten Entzug (dem zweiten im Jahr) beginnt die Therapie, zunächst stabilisierend. Nach einigen Wochen stellt sich heraus, dass Herr B. es zwar tatsächlich schafft, am Tag vor der Therapiestunde nüchtern zu bleiben, aber dass er gerade nach den Therapiestunden immer wieder „diese Bilder“ vor Augen hat, die er nicht ertragen kann und die er mit Alkohol verdrängt. Eine längere geschützte Umgebung erscheint dringend erforderlich, um ihn in der Abstinenz zu unterstützen. Seine Frau, die auch mit psychischen Problemen zu kämpfen hat, ist überfordert. Die Sorgen wegen des ungesicherten Aufenthalts tun ihr Übriges.

Durch unser Netzwerk gelingt es uns, eine psychiatrische Klinik ausfindig zu machen, die Herrn B. eine dreimonatige stationäre dolmetschergestützte Behandlung anbietet. Die Kostenübernahme gelingt glücklicherweise, obwohl es nicht das zuständige Sektorkrankenhaus ist. Im Anschluss findet sich eine engagierte Ergotherapeutin in einer Tagesstätte, die sprachreduziert mit Herrn B. täglich bzw. mehrere Tage die Woche arbeitet.

Ohne Unterstützung, Vernetzung sowie die Bereitschaft, pragmatische Wege zu finden, anstatt vor den Schwierigkeiten zu kapitulieren, hätte Herr B. keinen Zugang zu einer adäquaten Behandlung gefunden. 

Bestands- und Bedarfserhebungen

Im Projekt Flucht – Trauma – Sucht haben sich NTFN und NLS zusammengeschlossen, um den dargestellten Problemlagen zu begegnen und den Zugang für geflüchtete Menschen zu den Einrichtungen des Suchthilfesystems zu verbessern. Daher fanden im Februar 2020 zunächst Bestands- und Bedarfserhebungen unter Fachkräften der beteiligten Tätigkeitsbereiche statt.

Ergebnisse der Flüchtlingssozialarbeit

Die anonyme Befragung wurde mit 62 Fachkräften aus Niedersachsen durchgeführt, davon waren 35,5 % in einem Wohnheim tätig, 29 % in der Migrationsberatung, 9,7 % in einer Landesaufnahmeeinrichtung und 25,8 % in einer anderen Einrichtung. 39 % der Fachkräfte schätzten den Anteil der Geflüchteten mit Suchtproblematik in ihrer Einrichtung auf über 10 %, aber unter 25 %, 22 % schätzten ihn höher und 39 % als niedriger ein.

Als Hürden bei der Anbindung von Geflüchteten an Suchthilfeangebote nannten die Befragten insbesondere folgende Punkte:

  • Keine geeigneten Angebote für Geflüchtete
    Es fehlt an Angeboten in den Herkunftssprachen von Geflüchteten, gleichzeitig kommt es zu Vorbehalten seitens der Behandler*innen gegenüber dem Einsatz von Dolmetschenden. Es fehlt an Hilfsstrukturen zur Behandlung von Traumata und an Unterbringungsmöglichkeiten in einem therapeutisch stabilen Umfeld. Hinzu kommen ablehnende Haltungen seitens Substitutionsärzt*innen oder Unwissenheit über Angebote.
  • Bestehende Angebote werden nicht angenommen
    Cannabis- und Alkoholkonsum wird bei den Konsument*innen teilweise nicht als Sucht wahrgenommen bzw. verharmlost: Sie möchten sich nicht den Realitäten stellen. Ist ein Verständnis für das Problem vorhanden, ist die Hemmschwelle groß, darüber zu reden – sprachliche, religiöse und kulturelle Hürden verstärken die Scham davor, sich Hilfe zu suchen. Hinzu kommt mitunter ein fehlendes Verständnis von (Gesprächs-)Therapie sowie Vorbehalte und Misstrauen gegenüber Psycholog*innen/Therapeut*innen.
  • Betroffene, die Angebote wahrnehmen (wollen), springen häufig ab
    … etwa aufgrund langer Wartezeiten. Manchen fällt es schwer, aufgrund ihrer Erkrankung(en) Vereinbarungen einzuhalten oder aktiv Treffpunkte aufzusuchen.
  • Finanzierung und Verfügbarkeit
    Die Beantragung der Kostenübernahme ist zeitintensiv und aufwendig, immer wieder werden Anträge durch das Sozialamt abgelehnt. Gleichzeitig sind nur wenige (geeignete) Therapieplätze in Wohnortnähe vorhanden und wenn, dann sind diese mit langen Wartezeiten verbunden. Die Handlungsschnelligkeit wird durch behördliche Auflagen zusätzlich gebremst.

Ergebnisse der Suchthilfe

Von den 75 niedersächsischen Fachstellen für Sucht und Suchtprävention (FFS) sowie deren Neben- und Außenstellen nahmen 56 % an der Befragung teil. 38 der FFS gaben an, bisher Erfahrungen bei der Beratung von traumatisierten und süchtigen Geflüchteten gemacht zu haben.

Institution und Zielgruppe

Die in den Beratungsstellen ankommenden Geflüchteten sind in der Regel männlich. Frauen* wenden sich kaum oder nie an die Fachstellen, wie knapp 90 % der Befragten angaben. Zugangswege der traumatisierten und süchtigen Geflüchteten erfolgen über Fachkräfte der Flüchtlingshilfe sowie in 70 % der Fälle über andere Einrichtungen oder Sozialarbeitende. Bei gut jedem vierten Klienten kam der Kontakt über das Umfeld zustande, bei jedem Fünften über das Internet. Vereinzelt sind auch Substitutionsärzt*innen, psychiatrische Kliniken und Kirchen Vermittlungsinstanzen.

Verständigung und Sprache

Die Notwendigkeit der Unterstützung durch Übersetzungskräfte wird von über 75 % der Fachstellen geäußert. Zudem sieht die Hälfte einen hohen Bedarf an der Übersetzung von Materialien. Sprachbarrieren wurden als eine der größten Herausforderungen genannt. Zur Überwindung dieser Barrieren wurde von jenen, die bereits Erfahrungen in der Beratung mit Geflüchteten gemacht hatten, technische Hilfsmittel genutzt oder Personen aus dem Umfeld der Geflüchteten bzw. aus dem der Mitarbeitenden hinzugezogen. Knapp die Hälfte nutzte professionelle Sprachmittlungsdienstleistungen.

Vermittlung

Die Befragung hinsichtlich bestehender Kooperationen zwischen FFS und weiterer Institutionen des Gesundheitssystems oder der Geflüchtetenhilfe zeigte, dass Kooperation zwar fallbezogen stattfindet, jedoch nicht strukturell verankert ist und es kaum fachlichen Austausch gibt. Gut 70 % der FFS betrachten vernetztes Handeln der verschiedenen Institutionen und Wissenstransfer zwischen den Hilfesystemen als notwendig für eine gelingende Vermittlung. Für die Mehrheit der Befragten stellt eine Weitervermittlung der Zielgruppe ins Suchthilfesystem eine Herausforderung dar. Als Gründe hierfür werden neben der bereits erwähnten Sprachbarriere der (ungeklärte) Aufenthaltsstatus, das Fehlen regionaler Angebote, unzureichende Netzwerke sowie keine Weiterfinanzierung oder unerfüllte Aufnahmevoraussetzungen (z. B. traumatische Dissoziation bei Abstinenz) genannt. Hierbei ist zu erwähnen, dass die beiden zuletzt genannten Punkte auch bei Klient*innen ohne Fluchthintergrund eine Weitervermittlung oftmals erschweren oder verhindern (vgl. Abb.). Als essenziell für die Auflösung der erschwerten Behandlungsfinanzierung wird die Übernahme durch einen verantwortlichen Kostenträger genannt.

Bedarfe: „Fortbildung“ und „Vernetzung“

Schulungsbedarf wurde von 85 % der Fachstellen formuliert. Als sinnvolle Schulungsinhalte wurden sozialrechtliche Informationen zur Anspruchsberechtigung von Geflüchteten, Deeskalation und vor allem traumaspezifische Themen und Kultursensibilität genannt. Von den knapp 40 % der FFS, in denen diese bereits stattgefunden haben, besteht der Wunsch nach Vertiefung und Intensivierung.

Handlungsempfehlungen

Auf Grundlage dieser Ergebnisse lassen sich folgende Handlungsempfehlungen formulieren:

  1. Vernetzung und Wissenstransfer zwischen Suchthilfe, Flüchtlingshilfe und Migrant*innenselbstorganisationen
  2. Kostenübernahmen für Dolmetschende im Gesundheitssystem (auch in der suchtmedizinischen Versorgung)
  3. Mut und Kreativität bei der Lösung bestehender Schwierigkeiten – diese Ansätze sollten aber auch entsprechend strukturell verankert und gefördert werden.

Mit unserem Projekt können wir einen kleinen Schritt dazu beitragen: Durch Fortbildungen und regelmäßige runde Tische werden Fachkräfte aus den verschiedenen Tätigkeitsbereichen zusammengebracht und geschult; Sprachmittlungskosten für Suchtberatung und -behandlungen können für Geflüchtete mit Aufenthaltsgestattung aus Projektmitteln übernommen werden; und nicht zuletzt suchen wir im Rahmen unserer alltäglichen Arbeit Mittel und Wege, um die Situation suchterkrankter Geflüchteter (auch unter den bestehenden Bedingungen) zu verbessern.

Die Autor*innen des Beitrags sind im AMIF-geförderten Projekt „Flucht-Trauma-Sucht“ tätig: Maria Mallender und Leonie Muschner für den NTFN e.V., Kathrin Buhl für die NLS.

 

Kontakt:
m.mallender(at)ntfn.de, buhl(at)nls-online.de


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