Petra Mattes

„Sie sitzen nicht bei mir“

Therapeutische Gespräche mit geflüchteten Menschen per Telefon sind wichtig, wenn der unmittelbare Kontakt nicht möglich ist

Schlagwort(e): Coronavirus, Geflüchtete, Psychotherapie, Traumatisierung, Unterkünfte

„Sie sitzen nicht bei mir. Aber besser als nichts“, schreibt Herr S. auf die Frage, wie er es erlebt hat, dass wir während der coronabedingten Schließung unseres Zentrums für Besucher*innen – anstelle der persönlichen Termine im Therapiezimmer – ausschließlich telefonischen Kontakt hatten.

Ich bin Psychologische Psychotherapeutin und arbeite im Psychosozialen Zentrum für Flucht und Trauma (PSZ) des Caritasverbands Mainz. Normalerweise sehe ich Herrn S. 14-tägig im Rahmen seiner psychotherapeutischen Behandlung, während der Coronazeit hatten wir stattdessen wöchentliche Telefonkontakte. Das PSZ ist eine kleine Einrichtung, in der Menschen mit Fluchthintergrund bei psychischer Krankheit und psychischem Leid Hilfe erhalten. Die Hilfe umfasst Psychotherapie (inklusive Traumatherapie), psychosoziale Beratung und Asylverfahrensberatung. Dies alles geschieht möglichst unbürokratisch, für die Klient*innen kostenfrei und in den Sprachen Deutsch und Englisch (zusätzlich in der Beratung auch auf Türkisch). Wo entsprechende Sprachkenntnisse fehlen, unterstützen uns unsere Sprachmittler*innen.

Nachdem wir aufgrund der Gefahr einer Infektion mit dem Coronavirus unsere Einrichtung ab März für die Besucher*innen auf zunächst unabsehbare Zeit schließen mussten, bot sich in vielen Fällen das Telefon an, um mit den Klient*innen – mit oder ohne Sprachmittler*in – in Kontakt zu bleiben. Nur für wenige Klient*innen war dieses Angebot aufgrund einer Kombination von ausgeprägten psychischen Krankheitssymptomen und nicht vorhandenen Sprachkenntnissen nicht möglich. Mit allen anderen führten wir die begonnenen Therapien und Beratungen fort – häufig sogar in stark erhöhter Frequenz. In einigen Fällen, vor allem innerhalb der Asylverfahrensberatung, war es auch möglich, neue Klient*innen zu kontaktieren und Clearinggespräche – auch hier unter Einsatz von Sprachmittler*innen – durchzuführen.
 
Das Mobiltelefon ist Alltag für geflüchtete Menschen
Für geflüchtete Menschen ist die Kommunikation über das Mobiltelefon notwendigerweise eingeübter Alltag. Dies betrifft aufgrund der kaum vorhandenen Ausstattung mit PCs zum einen viele bürokratische und organisatorische Vorgänge, die ansonsten häufig am Computer erledigt werden. Zum anderen ist das Handy Lebensader für den Kontakt mit Eltern, Kindern, (Ehe-)Partner*in, Freund*innen, die man oft über Monate und Jahre nicht mehr persönlich treffen, sehen, sprechen konnte. Aus der Not geboren, findet für geflüchtete Menschen vieles, das sonst von der direkten Begegnung lebt – wenn überhaupt –, schon seit langer Zeit nur noch übers Telefon statt. Insofern ist es nicht überraschend, dass fast alle Klient*innen, denen wir Telefongespräche anboten, diese in der Krisenzeit sehr gerne annahmen und sie als wichtig und hilfreich erachteten – sie aber ganz überwiegend auch gerne wieder gegen Face-to-face-Kontakte eintauschten, sobald diese wieder möglich waren.

Ich habe im Nachgang der ersten (und hoffentlich einzigen) coronabedingten Schließung unserer Einrichtung eine kleine Befragung meiner Klient*innen, Sprachmittler*innen und Kolleg*innen durchgeführt und Antworten dazu erhalten, was gut und was schwierig war an diesen Kontakten für die Beteiligten und wie wichtig sie für die Klient*innen waren.

Gefragt nach der Wichtigkeit der Telefonate während der Coronaschließung in Form von Noten (1 bis 5), vergeben die meisten Klient*innen die Note 1 – sehr wichtig, einmal Note 2 – wichtig und einmal Note 3 – mittelwichtig. Die hohe Wichtigkeit dieser Telefonate mag auf den ersten Blick erstaunen, wird aber verständlicher, wenn man auf die aktuellen Lebensumstände der Betroffenen schaut: Fast alle unsere Klient*innen leben seit weniger als fünf Jahren in Deutschland und sind in Gesellschaften aufgewachsen, die sich von der deutschen in vielerlei Hinsicht unterscheiden. Sie sind jetzt in Deutschland, weil ihnen in ihren Herkunftsländern die Existenzgrundlage aufgrund von Krieg und Bürgerkrieg oder extremer Verarmung entzogen wurde. Sie mussten – oft quasi über Nacht – fliehen, da sie beispielsweise aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit, ihrer politischen Ansichten oder gleichgeschlechtlichen Orientierung von Verfolgung, Folter, körperlicher und sexueller Gewalt, Gefängnis und Ermordung bedroht waren. Dies bedeutet, dass fast niemand von ihnen sich auf das Leben in Deutschland vorbereiten konnte; Sprache, andere Kultur(en), all dies musste erst nach Ankunft erworben werden – für die Erwachsenen oft unter extrem widrigen Umständen: etwa nicht verfügbare kostenlose Sprachkurse (z. B. für die Mehrzahl der aus Afghanistan geflohenen Menschen zutreffend) oder die Verpflichtung, über lange Zeiträume in einer der großen Sammelunterkünfte wohnen zu müssen, was Wissenserwerb und Aneignung von Kenntnissen über den deutschen Alltag kaum ermöglicht. Gleichzeitig sind es genau diese Kenntnisse, die von Behörden und Gerichten im Sinne einer vorzeigbaren Integrationsleistung erwartet werden, wenn es um die Sicherung des Aufenthalts der Betroffenen geht. Für die meisten Geflüchteten ist diese Situation extrem stressig und nicht selten auch Auslöser vorher nicht vorhandener psychischer Erkrankungen – und damit Anmeldegrund im PSZ.

Selbst wenn man das Glück hat, dass einem eine engagierte Ehrenamtliche oder – als unbegleitete*r Minderjährige*r – eine kompetente Mitarbeiter*in einer Jugendhilfeeinrichtung unterstützend zur Seite steht, so kann dies doch oft konkret diesen Stress nicht mindern, da viele geflüchtete Menschen auch von sich selbst verlangen, schnell zu lernen, gut zurechtzukommen und stark zu sein; nicht zuletzt, um so ihre Helfer*innen nicht zu enttäuschen. Schwäche, Ängste, Verzweiflung werden oft nicht gezeigt – und erst recht nicht in den Telefonaten mit den im Heimatland Verbliebenen, denen man oft die einzige Hoffnung ist und die die eigene Not keinesfalls mitbekommen sollen. So sind die Berater*in oder die Psychotherapeut*in oft die einzigen Menschen, bei denen der Leistungsaspekt im Hintergrund stehen darf und man offen sprechen kann, Schwächen inklusive. Herr A. formuliert es so: „All the bad memories and the events from the past, but also all the problems I face nowadays and all the positive sides and the little successful steps make me need a safe space and a trusted person where we can evaluate all of that and work on it.“

A safe space and a trusted person
Folgt man der Idee, dass für geflüchtete Menschen – vielleicht in noch stärkerem Maße als für Menschen ohne Fluchthintergrund – Psychotherapeut*innen und Berater*innen diesen „safe space“, diesen sicheren Ort, verkörpern, so wird deutlich, weshalb die Aufrechterhaltung dieser Beziehung für Menschen mit Fluchthintergrund gerade während der Coronakrise so wichtig war und ist. Noch einmal Herr A.: „During corona, when it was extra stressful, I was very grateful to have that chance to keep in touch ... I really appreciated our almost weekly connection. Felt less alone and privileged to be able to receive psychological support in such a hard time.“ Von ähnlichen Rückmeldungen berichten auch die die anderen Therapeut*innen und Berater*innen des PSZ.

Neben dem Fluchtschicksal verbindet unsere Klientel, dass sie – oft in schwerer Form – unter den Symptomen psychischer Erkrankungen wie Traumafolgestörungen, Depressionen, Angst- und Schmerzstörungen leiden. Viele der mit diesen Störungen verbundenen Symptome machen es schwer, Neues zu lernen, sich in ungewissen Umständen zu orientieren und Vertrauen in andere Menschen zu haben. Auch deshalb werden sicherlich einmal aufgenommene vertrauensvolle Beziehungen wie die zur Therapeut*in (und Sprachmittler*in) auf besondere Weise als wertvoll erlebt.

Besonders wichtig war die Aufrechterhaltung des Kontakts auch für Personen, die noch kein oder kaum Deutsch sprechen. Sind manche Klient*innen auch anfangs skeptisch, ob sie den Sprachmittler*innen trauen können, ob diese sie nicht kritisch beurteilen, wenn sie beispielsweise „kulturell unerwünschtes“ Denken und Handeln berichten, oder ob diese nicht doch Gehörtes trotz Schweigegebot weitertragen, so überwiegt fast immer die Erleichterung, auf diese Weise überhaupt erst Psychotherapie und Beratung erhalten zu können. Die im Face-to-face-Kontakt schon etablierte vertrauensvolle Dreierkonstellation wurde nun gern in Form von Telefonkonferenzen fortgeführt und als hilfreich bewertet. Frau M., die im Rahmen einer Langzeittherapie und intensiver psychosozialer Beratung mit kontinuierlicher Unterstützung derselben Sprachmittlerin das PSZ besucht, sagt sogar, dass sie seit Ausbruch der Corona-Pandemie lieber telefoniere als den persönlichen Kontakt zu suchen. „Es ist einfach. Ich brauche weniger Zeit. Es geht von zu Hause. Ich kann ohne Schuhe, ohne Kopftuch, ohne Maske sein. Ich muss nicht vorsichtig sein“, sagt sie – und dass sie das Haus aus Angst vor Ansteckung nach wie vor kaum verlasse. Auch die Möglichkeit, häufiger Termine in Form von Telefonkontakten wahrzunehmen, was sonst an organisatorischen Schwierigkeiten oder fehlender Finanzierung der oft erheblichen Fahrtkosten scheitert, wurde als positiv gewertet.

Welche Art Unterstützung konnte im Einzelnen gewährt werden?
In der Asylverfahrensberatung und in der psychosozialen Beratung wurden die gleichen Themen bearbeitet wie auch im direkten Kontakt. Der Einbezug von Sprachmittler*innen war sehr wichtig. Teilweise wurden andere digitale Medien miteinbezogen oder kombinierte Lösungen gesucht wie z. B. die Versendung von Vordrucken per Mail und die Rücksendung der ausgefüllten Unterlagen, bevor weitertelefoniert werden konnte.

Im therapeutischen Kontext kam eine Reihe von Ansätzen zur Anwendung. So hat unsere Kindertherapeutin beispielsweise Päckchen mit Spiel- und Bastelmaterialien verschickt und Kindern am Telefon Geschichten aus Buchreihen vorgelesen, die diese teilweise schon aus der Face-to-face-Spieltherapie kannten und liebten. So konnte sie auch am Telefon mit den Kindern über deren eigene Gefühle ins Gespräch kommen, sodass diese nicht mehr etwa durch Schreien ausgedrückt werden mussten.

Vielfach war Informationsvermittlung zum Coronavirus und zu den Coronamaßnahmen wichtig. So glaubten beispielsweise etliche Klient*innen, dass bereits das Einatmen der Luft – im Freien und unabhängig vom Abstand zur nächsten Person – gefährlich sei und dass sie quasi einer Ausgangssperre unterliegen würden und selbst bei Symptomfreiheit ihre Räume gar nicht mehr verlassen dürften, außer zum Lebensmitteleinkauf. Sehr wichtig war auch Psychoedukation zu erwartbaren Auswirkungen der Coronakrise auf die aktuellen Krankheitssymptomatiken der Klient*innen wie Angst, Depression und PTBS-Symptome und möglichen Präventiv- und Gegenmaßnahmen. Herr A. fand beispielsweise dies hilfreich: „Sie haben Tipps gegeben zur Stresslösung.“ Zum Abbau körperlichen Stresses boten sich etwa verordnete Spaziergänge, Joggen und Fahrradfahren an, das Stemmen von Gewichten zu Hause oder gerne gepflegte Tätigkeiten wie Kochen, Malen und Handarbeiten – deren Ausführung im Sinne von „Hausaufgaben“ dann in der folgenden Telefonsitzung besprochen wurde.

Weitere gut am Telefon durchführbare therapeutische Ansätze waren die gemeinsame Analyse sowie das strukturierte Entkatastrophieren unrealistischer Befürchtungen und die Entwicklung von Bewältigungsgedanken. Herr N. schreibt: „Für mich war es sehr wichtig, Telefongespräche mit Ihnen zu haben, da (es) für mich während der Coronaschließung sehr stressig war und (ich) manchmal die Orientierung verlor. Außerdem brauchte ich jemanden, dem ich meine Situation erzählen konnte. Ein kleines Gespräch mit Ihnen bedeutete viel für mich … Ich bekam viel Druck von der Schule (*Onlineunterricht). Das Gespräch war für mich eine Zuflucht vom stressigen Alltag und von den ganzen Problemen, die ich hatte. Nachdem wir telefoniert hatten, fühlte ich mich immer erleichtert und fröhlich ... ich bin Ihnen dankbar.“

Und was war schwierig am telefonischen Kontakt?  
„Da es wegen der Pandemie eine stressige Situation war, ich bereits weniger soziale Interaktionen hatte, war es für mich sehr hilfreich, die telefonische Beratung zu haben. Es war anfangs etwas schwierig, nicht von Angesicht zu Angesicht miteinander zu sprechen, aber nach wenigen Minuten war es ganz normal“, schreibt Frau M. „Was ich schwer fand, etwas später war es wie ein Interview, schwer für mich zu erzählen, Sie sitzen nicht bei mir ...“, so Herr S. „I don´t believe there was a communication problem while we phoned“, meint Herr A. „Everything was clear.“

Und wie haben die Sprachmittler*innen die Gespräche erlebt? Für die Mehrzahl scheinen die Gespräche durchaus anstrengend gewesen zu sein, waren doch auch sie – wie Therapeut*innen und Berater*innen – in einer Doppelrolle: Einerseits waren sie selbst Betroffene von Quarantänemaßnahmen, Angst vor Ansteckung, Furcht vor finanziellen Einbußen und den Herausforderungen der Kinderbetreuung zu Hause, andererseits aber sollten sie anderen helfen, die in dieser Situation steckten. Zudem wurde es als schwierig erlebt, das Dolmetschen komplizierter Passagen weder mit Mimik und Gestik unterstreichen noch das Gegenüber sehen zu können, um besser einzuschätzen, ob das Gedolmetschte richtig angekommen ist. Schwer war auch die empfundene Verantwortung, bei wichtigen Themen vor allem in der Verfahrensberatung Fachbegriffe richtig zu übersetzen. Einige Sprachmittler*innen schätzten aber auch die Zeitersparnis, die es bedeutete, nicht extra anfahren zu müssen, eine externe Kinderbetreuung zu organisieren oder das gesparte Parkhausticket. Durchweg gibt es vor allem aber positive Rückmeldungen dazu, dass es sehr gut war, die Klient*innen nicht alleine gelassen zu haben, „dass jemand da ist einmal in der Woche in dieser schwierigen Zeit“, wie eine Sprachmittlerin es formuliert, und Zufriedenheit darüber, sich dieser Situation gestellt und sie gemeinsam gut bewältigt zu haben.

„… dass jemand da ist einmal in der Woche in dieser schwierigen Zeit“
Und wie geht es uns Berater*innen und Therapeut*innen? Ich will nicht für alle sprechen. Einige Kolleg*innen sind geschickter mit dem Medium Telefon und insgesamt in ihren Therapien stärker verbal orientiert, was auf mich nur mit Einschränkung zutrifft. Ich schweige auch gerne mal eine Zeitlang während der Sitzungen, ich liebe es, im Rahmen der Traumatherapie Schnüre, Steine und Blumen auf dem Teppich auszulegen, sich zum Abschluss der Sitzungen gemeinsam zu schütteln, abzuklopfen, gemeinsam tief zu seufzen. Und sehr glücklich habe ich mit einer sehr traumatisierten Klientin, die während der Sitzungen selten und wenig spricht und mit der ich leider unter Quarantänebedingungen nicht weiterarbeiten konnte, gemeinsam mit weichem Therapiesand gestaltet, was noch nicht ausgesprochen werden kann – sobald Face-to-face-Kontakte mit Visier oder Mund-Nasen-Schutz in unserem Zentrum wieder möglich waren.

Die hochfrequenten täglichen Telefonate mit Klient*innen und Sprachmittler*innen in einer für alle hochstressigen, ungewissen Zeit und unter oft ungünstigen akustischen Bedingungen empfand ich als sehr erschöpfend. Aber was wäre stattdessen möglich gewesen? Kein Kontakt ist jedenfalls keine Alternative. Wir sind manchmal sogar die einzigen Kontaktpersonen für unsere Klient*innen gewesen in dieser Krisenzeit. Manchmal hat das Telefonieren, erreichbar zu sein und erreichen zu wollen, sogar wie ein Katalysator für die Festigung der therapeutischen Beziehung gewirkt, berichtet eine Kollegin.

Um noch einmal Herrn S. zu zitieren: „Sie sitzen nicht bei mir. Aber besser als nichts. Ohne Sie wäre es schlecht. Ich freue mich, Sie (wieder live, so verstehe ich das) zu treffen!“

Petra Mattes ist Psychologische Psychotherapeutin im Psychosozialen Zentrum für Flucht und Trauma des Caritasverbandes Mainz e.V.

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